Ausgelesen: Zakhar Prilepins „Sankya“

Zum Inhalt: Vielen Jugendlichen im postsowjetischen Russland fehlt es an Orientierung und Halt. Sojusniki nennen sich etwa die jungen Anhänger einer skurrilen Partei, die dem Niedergang des Landes mit einer Mischung aus Punk, Anarchie und Blut-und-Boden-Ideologie begegnen. Feindbilder sind insbesondere der korrupte Staat und der Westen, der in Gestalt zynischer, antinationaler Liberaler Einzug gehalten hat. Es bleibt nicht bei bloßem Gerede, schließlich beginnen die Sojusniki eine aussichstlose Revolution gegen die übermächtigen Gegner.

In der Lobpreisung des Landvolks – den wahren Russen – und der dunklen Beschreibung der Stadt erinnert Prilepins „Sankya“ an die Werke Hamsuns. Allerdings fehlt es dem Buch an sprachlicher Kraft (Ãœbersetzung?). Die Grübeleien des Hauptprotagonisten Sascha – oder auch: Sankya – sind zudem langweilig und unreif (wer braucht solche „Helden“?). Eine selbstmitleidige Verlierer-Philosophie, die schon als Fiktion traurig macht und in ihrer Plattheit beängstigend ist.

Leider handelt es sich nicht um reine Fiktion: Autor Zakhar Prilepin ist Mitglied der schrägen nationalbolschwistischen Bewegung Russlands. Beim Protagonisten handelt es sich offenkundig um sein Alter Ego. Bleibt zu hoffen, dass die aussichtslose Revolution Prilepins Wunschdenken (?) bleibt. Solch blutige Selbstfindung kann die Welt nicht auch noch gebrauchen.

Soziologische Systemtheorie – was geht?

Das Studium liegt schon eine Weile zurück, die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Soziologie gehört nicht mehr zum Alltag. Doch immer wieder kehrt es zurück: mein Interesse insbesondere an der soziologischen Systemtheorie. Wie hat sie sich weiterentwickelt, welche Schüler Luhmanns haben die Theorie nach dessen Tod weitergebracht?

Die alten Fronten existieren immer noch, das Für und Wider wird weiter diskutiert. Und die Gegner der „antihumanen“ Gesellschaftstheorie schlagen sich inzwischen recht gut, wie ein aktueller Disput bei Zeit Online belegt.

Aufschluss über den Zustand der soziologischen Systemtheorie, anschließend an die Überlegungen Niklas Luhmanns, gibt ein schönes langes Interview, das der Techniksoziologe Martin Rost (Wikipedia, Website, Twitter) im Jahr 2009 mit Prof. Peter Fuchs (Wikipedia, Website) führte. Professor Fuchs plaudert aus dem Nähkästchen: Wie war das damals mit Luhmann? Was macht eine(n) gestande(n) Systemtheoretiker(in) aus? Welche Erker lassen sich an das von Luhmann aufgebaute Theoriegebäude zimmern? (Oder muss das gar in Teilen abgerissen und neu erbaut werden?) Sehr interessant ist das alles.

Verschlagworten lässt sich das Interview aber auch mit Begriffen wie Eitelkeit oder Selbstverliebtheit. Sieht man’s positiver (oder distanzierter), dann passt auch der Begriff Irritation ganz gut zur Beschreibung der Wirkung, die so manche Aussage des Professors auf den Zuschauer hat.

Prof. Peter Fuchs im Interview mit Martin Rost

 

Die einen und die anderen

Die einen: Busbahnhof Bonn. Taummelnde Gestalten, umgeben vom Gestank aus Pisse und Bier. Trübe Blicke, hinfällige Körper. Seltsam das laute Getöne. Hier und doch woanders. Ein Leben auf Abruf?

Die anderen: Linie 66. Faltiges Gesicht. Solariumbräune. Süssliches Parfum und Mundgeruch. Im Banne des Smartphones: das Gesicht wird zur Fratze, die Zunge schiebt sich zwischen die Lippen, irre Augen. Rollkoffer-Menschen. Ein Leben ohne Sinn?

Besenreines Nomadenleben

Kleiderschrank, Bücherregal und Tisch – alles von Ikea. Die ganze Habe passt leicht ins 15-Quadratmeter-WG-Zimmer. Die Musik liegt auf der Platte. Die Pflanzenschale mit etwas blühendem Grünzeugs gabs beim Baumarkt um die Ecke. Die Erinnerungsfotos sind in einer Minute abgehängt. Wenn es mit dem Transporter nicht klappt, kann man die billigen Möbel auch auf die Straße stellen. Hoffentlich nimmt sie jemand mit. Das Notebook ist verpackt. Achtung, die schweren Bücherkartons immer rückenschonend heben! Zimmerübergabe besenrein. Eine neue Stadt – die Fremde irritiert nicht lange. Neues Zimmer zur Zwischenmiete – gefunden im Internet. Alles okay: die Mitbewohner sind anscheinend nett. Wenn morgen auch bei der Arbeit alles akzeptabel ist, kann ich mich echt nicht beschweren. Jetzt aber nicht mehr denken – relaxen! Es ist doch Sonntagabend.

Menschelndes im Web: David Lynchs Interview Project

Für den Soziologen Niklas Luhmann wie den Regisseur David Lynch gilt, dass ihre Werke den Rezipienten irritieren und bewußtseinserweiternd wirken. Zumindest mir geht das so. Ansonsten fallen mir auf die Schnelle keine nennenswerten Gemeinsamkeiten ein. Eher schon Unterschiede: Während, wie schon angesprochen, Luhmann den Menschen in seiner Theorie zum „Nebendarsteller“ macht, gewährt Lynch „Hinz und Kunz“ derzeit den großen Auftritt.

Und zwar im Rahmen des im Internet zu findenden Interview Projects. Wie Meister Lynch selbst erläutert, handelt es sich bei dem Projekt um einen 70 Tage währenden und 20.000 Meilen umfassenden „Road Trip“ durch die USA, bei dem zufällig in Bars oder am Straßenrand angetroffene Menschen die Gelegenheit erhalten, ihre „Story“ in die bereitgehaltene Kamera zu erzählen.

The Interview Project

Die Idee ist zwar nicht neu, allerdings geht es beim Interview Project nicht kumpelhaft zu. Anders als etwa beim bayerischen Pendant „Gerst unterwegs“ bleibt eine Distanz zum Objekt gewahrt. So muss auch nicht ständig zum Taschentuch gegriffen werden, denn statt Rührung erzeugen die virtuellen Kurzbegegnungen mitunter eher Befremden oder gar einen leichten Grusel.

Beispiel: Episode 78. Hier beklagt die verhärmte und fast zahnlose Theresa den zunehmenden Sittenverfall und bedauert die unter diesen Zuständen aufwachsende Jugend. Aufgezeichnet wurde das Interview im Fünftausend-Seelen-Kaff Porter im mittleren Westen der USA, vor Theresas verfallenem Häuschen. Wen wundert es da noch, dass die 73-jährige, geschiedene Frau gerne patriotische Gedichte verfasst und Gott als einzigen Halt („God is My Co-Pilot“) in ihrem Leben bezeichnet?

Theresa, 73, Porter / Indiana

Unmittelbar ist solch eine „Menschen-Show“ aber selbstverständlich auch bei Lynch nicht. Die den Interview-Schnippseln beigefügte Hintergrundmusik oder die verfremdende Bildtechnik erzeugt manchmal gar die aus Lynchs Filmen bekannte, eigentümliche, nicht selten beängstigende Stimmung. Das Ganze lässt sich also als ein kurzweiliges, gut gemachtes Nebenprojekt des exzentrischen Regisseurs bezeichnen, das ein wenig an „The Straight Story“ erinnert.

Interview Project-Route

Lynch hat sich mit dem Interview Project übrigens zum Ziel gesetzt, dem Zuschauer die Chance zu geben, Zufallsbekanntschaften mit ihm wildfremden Menschen zu machen. „It’s something that’s human and you can’t stay away from it“, ist er sich dabei sicher und wünscht: „Enjoy the Interview!“.

David Lynch

„Die einen mögen halt warme Affenhirne …“

Preisfrage, welcher Denkrichtung ist ein Sozialwissenschaftler zuzuordnen, der für seine Ãœberlegungen zum Menschen folgenden Ausgangspunkt wählt: „Wie konstruieren soziale Systeme dasjenige, was sie als relevante Umwelt brauchen?“. Richtig liegt, wer jetzt an die soziologische Systemtheorie denkt, denn dieser gilt unsereins eben in erster Linie als „relevante Umwelt“ der „sozialen Systeme“ .

Der „Schachzug“, von der üblichen anthropozentrischen Sichtweise abzuweichen und soziale Systeme ins Rampenlicht zu stellen, ist raffiniert, weil sich die Gesellschaft so ganz anders beobachten lässt. Gut erklärbar wird dadurch etwa die Eigenlogik und -dynamik der Wirtschaft, die inzwischen von den menschlichen Belangen weitgehend enthoben scheint (Link-Tipp hierzu: Jörg Räwel hat die Finanzkrise systemtheoretisch aufgearbeitet).

Dass die Systemtheorie den Faktor Mensch etwas zur Seite stellt, um einen unverstellteren Blick auf die sozialen Zusammenhänge zu bekommen, ist umstritten. Der Vorwurf, die Theorie sei a-human, wird immer wieder laut. Ein Mißverständnis aus Unkenntnis (hier ein Beispiel) und zudem Beleg dafür, wie wichtig sich so mancher Mensch nimmt. (Paradoxerweise scheinen hier insbesondere jene auf die Bedeutung des Menschen zu pochen, die sonst gerne dessen destruktives Potential für die Umwelt beklagen.)

Zurück zum oben zitierten Ausgangspunkt. Er geht auf den Emeritus Professor Peter Fuchs zurück. Der Luhmann-Schüler, über den DIE ZEIT geschrieben haben soll, er sei der „originellste und kühnste Weiterdenker der Systemtheorie Luhmanns“, hat sich mit dem Thema Mensch in seinem letzten Buch „Das Maß aller Dinge“ eingehend befasst. Im nachfolgenden Video äußert er seine Ansicht, dass vieles, was wir als menschliche Eigenheiten erachten, eigentlich von der sozialen Umwelt des Menschen herrührt. Das gilt auch für Gefühle oder den Geschmack. Im Video macht Fuchs die soziale Konditioniertheit des Menschen so anschaulich: „Die einen mögen halt warme Affenhirne. Die mögen das. Und wir mögen es vielleicht nicht.“

Das Anthropologie-Video findet sich neben einigen anderen im neuen Contextblog, das sich Aktuelles aus Wissenschaft, Philosophie und Kultur auf die Fahne geschrieben hat. In den weiteren Clips (aufgezeichnet im April 2009 in Luzern) äußert sich Fuchs gegenüber Studenten zu „Integration“, „Behinderung“, „Sinn und Sinnlosigkeit“, „Wirtschaftskrise“ sowie „Niklas Luhmann und die Theorie“.

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Ãœber die Rechtfertigung von Armut …

… hierzulande hat der Politikwissenschaftler Prof. Christoph Butterwegge einen äußerst lesenswerten Artikel verfasst, der sich in der Tageszeitung „Junge Welt“ veröffentlicht findet. Galt bislang (geerbte) materielle Not als Hindernis für eine gute Bildung und eine lukrative Arbeitsstelle, so drehen die Fürsprecher der „herrschenden Leistungsideologie“ den Spieß einfach um. Materielle Not ist ihrer Ansicht nach gar nicht das Problem, vielmehr liegt der Bildungsmangel und dessen böse Folgen schlichtweg an der Faulheit und dem Desinteresse der so genannten Unterschicht: „Sie könnten ja, aber sie wollen einfach nicht.“

Die undisziplinierte Unterschicht ist an ihrem Los letztlich selber schuld – das wäre ein Freispruch erster Klasse für die Träger und Profiteure der bestehenden Verhältnisse. Armut wird damit legitim (sie müssen ja nur wollen, wie die anderen, die genug Zaster haben). Umverteilung wird damit zum Nonsens (die Probleme bleiben bestehen, wenn der Reiche dem Armen gibt). Und: Die Behauptung, dass Bildung der Schlüssel für materiellen Erfolg und Zufriedenheit ist, erklärt auch, warum gegenwärtig in Politik und Wirtschaft ständig eine „Bildungsoffensive“ gefordert bzw. ausgerufen wird. Mehr Bildung, das ist die Lösung für alles Schlechte in der Gesellschaft.

Ein Trugschluss, glaubt man Professor Butterwegge. Mehr noch: Der Bildungs-Hype ist eine Verschleierungstaktik, die den Status Quo zementieren soll, in dem von den eigentlichen Ursachen zunehmender Armut abgelenkt wird. Wer’s glaubt, wird kein Grund mehr sehen, für die Umverteilung der materiellen Ressourcen einzutreten.  „Beruhigungspille Bildung“ also.

Drei Generationen Systemtheorie

Eine recht hilfreiche Ãœbersicht: Die nachfolgende Tabelle komprimiert die Geschichte der Systemtheorie in drei Generationen. Mit einigen Erläuterungen versehen, findet sie sich im interessanten Blog „Concept Walk“ des japanischen Studenten Takashi Iba.

Drei Genereationen Systemtheorie